Einer der Begriffe aus der deutschen Sozialversicherung, die ein großer Teil der arbeitenden Bevölkerung kennt, der aber meist nicht richtig eingeordnet wird, ist die halbe Erwerbsminderungsrente. Der einfache Grund dafür dürfte sein, dass in fast jedem größeren Betrieb ein Kollege damit lebt oder besser, damit leben muss. Rund 1,8 Millionen Menschen in Deutschland sind davon betroffen.
Zunächst bedarf es der Begriffsklärung. Das deutsche Rentenversicherungssystem besteht aus historischen Gründen aus mehreren Säulen. Zu unterscheiden sind die gesetzliche Altersrente, die auf der Grundlage der gezahlten Beiträge errechnet und gezahlt wird, und die ergänzenden Systeme Erwerbsminderungsrente und Hinterbliebenenrente als Witwen-, Waisen- und Erziehungsrente. Diese Renten werden von der Deutschen Rentenversicherung verwaltet.
Daneben sorgen die Berufsgenossenschaften für die Absicherung des Arbeitslebens und bezahlen im Falle der bleibenden Schädigung eines Arbeitnehmers eine Unfallrente. Der grundlegende Unterschied zwischen Unfallrente und Erwerbsminderungsrente beruht darauf, dass die Unfallrente nur dann gewährt wird, wenn es sich um die Folgen eines Arbeitsunfalls handelt. Bei der Entscheidung über eine Erwerbsminderungsrente wird nur der Grad der Erwerbsminderung herangezogen, nicht aber mögliche oder bekannte Ursachen.
Während eine Unfallrente der Berufsgenossenschaften unter Umständen lebenslang gezahlt werden kann, enden die Leistungen der Deutschen Rentenversicherung als Erwerbsminderungsrente mit dem Eintritt in die Regelaltersrente. Es handelt sich also weniger um eine Rente im eigentlichen Sinn, sondern um einen Zuschuss zum Lebensunterhalt, der gesundheitlich bedingt fehlende Arbeitsbezüge ausgleichen soll.
Zu unterscheiden sind medizinische und versicherungsrechtliche Vorbedingungen.
Vor Eintritt des Versicherungsfalls muss für wenigstens fünf Jahre ein Versicherungsverhältnis bestanden haben, in dem für mindestens drei Jahre Pflichtbeiträge geleistet worden sind. Die fünf Jahre werden im Versicherungsrecht als „allgemeine Wartezeit“ bezeichnet. Für diese können bestimmte Zeiträume angerechnet werden, wie etwa Zeiten der nicht professionellen Pflege, des Bezugs von Krankengeld oder Arbeitslosengeld. Die Feststellung der erfüllten allgemeinen Wartezeit muss im Einzelfall erfolgen. Unter gewissen Voraussetzungen ist eine vorzeitige Erfüllung der Wartezeit gegeben.
Bei Berufsunfällen oder -krankheiten muss zum Zeitpunkt des Unfalls oder der Erkrankung ein Versicherungsverhältnis mit der Rentenversicherung bestanden haben. Ebenfalls berücksichtigt wird, wer während zweier Jahre davor für die Tätigkeit ein Jahr Pflichtbeiträge geleistet hat. Trat das Ereignis, das die Verminderung der Erwerbsfähigkeit zur Folge hatte, während einer Wehrdienst- oder Zivildienstübung ein, so genügt es grundsätzlich, wenn vorher nur ein einziger Beitrag an die Rentenversicherung abgeführt wurde. Wird die volle Erwerbsminderung bei jungen Menschen innerhalb der ersten sechs Jahre nach dem Abschluss der Berufsausbildung festgestellt, gelten besondere Regeln. Für die Wartezeit werden Schulzeiten angerechnet, wenn in den letzten beiden Jahren wenigstens für ein Jahr Pflichtbeiträge entrichtet wurden.
Grundsätzlich gilt im deutschen Rentenversicherungsrecht der Grundsatz „Reha vor Rente“. Der als Gutachter bestellte Arzt wird also zunächst prüfen, ob eine Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit grundsätzlich möglich ist und gegebenenfalls entsprechende Maßnahmen vorschlagen. Ist eine Wiederherstellung der gewöhnlichen Leistungsfähigkeit nicht möglich oder nicht zu erwarten, muss die verbleibende Leistungsfähigkeit beurteilt werden. Hier entscheidet sich, ob eine volle oder halbe Erwerbsminderungsrente gewährt wird.
Wer nur noch weniger als drei Stunden Arbeit täglich zu leisten vermag, erhält die volle Erwerbsminderungsrente. Kann noch mehr als drei Stunden, aber weniger als sechs Stunden gearbeitet werden, so wird die halbe Erwerbsminderungsrente gezahlt. Der Rentenanspruch besteht so lange, wie die Minderung der Erwerbsfähigkeit besteht. Die Rentenversicherung hat das Recht, eine regelmäßige Überprüfung einzufordern und nimmt dies auch wahr.
In vielen Fällen bietet der Arbeitsmarkt keine Teilzeitarbeitsplätze für Menschen mit halber Erwerbsminderungsrente. In diesem Fall kann die volle Erwerbsminderungsrente gewährt werden.
Grundlage für die Berechnung der Renten sind die geleisteten Beiträge an die Rentenversicherung. Wurde über 25 Jahre das durchschnittliche Jahreseinkommen erzielt (gegenwärtig 43.142 Euro), so dürfen als Erwerbsminderungsrente aktuell 940 Euro erwartet werden, was auch in etwa der durchschnittlichen Rentenhöhe entspricht. Bei 35 Jahren erhöht sich der Betrag auf 1.316 Euro. Sehr viele, die nicht über 25 Jahre oder länger Beiträge in durchschnittlicher Höhe an die Rentenversicherung leisten konnten, müssen aber mit Beträgen um die 700 Euro leben. Das bedeutet, dass sie auf zusätzliche Hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen sind, sofern nicht anderweitige Hilfe, wie durch die Familie oder Lebenspartner, erfolgt.
In gewissen Grenzen können die Bezieher einer Erwerbsminderungsrente diese mit einem Hinzuverdienst aufbessern. Wer die volle Rente bezieht, kann aktuell bis zu 17 823,75 Euro (dynamischer Wert, wird jährlich angepasst) zusätzlich verdienen. Bei einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung wird die Hinzuverdienstgrenze individuell ermittelt. Grundlage dafür ist das höchste beitragspflichtige Einkommen der letzten fünfzehn Jahre. Im gar nicht so seltenen Fall der gleichzeitigen Gewährung einer Unfallrente und einer Rente wegen Erwerbsminderung wird letztere beim gemeinsamen Überschreiten von Höchstbeträgen gekürzt.
Die Rentenversicherung sichert mit der Rente wegen Erwerbsminderung zwar in vielen Fällen das Überleben, aber eines in Armut. Der langjährige Bezug von Erwerbsminderungsrenten - ganz oder halb - führt mit großer Sicherheit zu Altersarmut und in die Abhängigkeit von Hilfe zum Lebensunterhalt im Alter. Die halbe Erwerbsminderungsrente kann kein halbes Gehalt aus Berufstätigkeit ersetzen. Aber dadurch, dass die Abzüge bei einem halbierten Bruttoarbeitsgehalt auch deutlich niedriger ausfallen, ist zumindest in den unteren Lohnklassen der Absturz nicht so dramatisch wie bei der vollen Erwerbsminderungsrente. Ein jeder sollte daher für den Fall der Invalidität auch privat durch eine entsprechende Versicherung vorsorgen – es trifft jeden Fünfundzwanzigsten.